One D&D: Zwischen den Zeilen
Mit äußerster Spannung haben die Meisten die Ankündigung der neuen Edition – Verzeihung! – Generation von Dungeons & Dragons verfolgt. Einer der spannendsten Teile daran war, dass die neuen Kernregelwerke, bestehend aus dem Spielerhandbuch, Spielleiterhandbuch und dem Monster Manual, zwar erst 2024 erscheinen sollen, wir aber jetzt schon Einblicke in die vorläufigen Änderungen erhalten können. Mehr dazu ist hier zu finden.
In diesem Artikel soll es weniger um den Inhalt des ersten Artikels gehen oder was all das für unsere Finanzen bedeutet. Stattdessen wird mehr darauf eingegangen, was uns diese Änderungen über die zentralen Ziele von Wizards of the Coast (WotC) verraten.
Wizards scheut keinen Aufwand
Die Möglichkeit zu Playtests und anschließenden Umfragen, zeigt schon, dass WotC weiterhin großes Interesse daran hat, das Spiel zu dem zu machen, wie es tatsächlich gespielt wird. Die Änderung, die das wohl am deutlichsten zeigt, ist der automatische Erfolg oder Misserfolg bei einer natürlichen 20 oder 1, nicht nur bei Angriffswürfen, sondern auch bei Attributs- oder Rettungswürfen.
Let's update the rules so that the game plays the way people expect it to play.
Jeremy Crawford in Unearthed Arcana: Character Origins | One D&D
Änderungen dieser Art dürften den allermeisten entgegen kommen, weil sie sich schließlich schlicht an der Mehrheit der Spielenden orientiert. Diese Motivation führt auch dazu, dass Systeme, welche bisher aufgrund von verschiedensten Gründen nicht funktioniert haben, angepasst oder vielleicht sogar entfernt werden. Mit dem Hinzufügen neuer Systeme darf weniger gerechnet werden.
Das System rund um die Inspiration von Charakteren wurde beispielsweise von den meisten Spieler:innen-Gruppen entweder ignoriert oder durch Tischregeln angepasst. In diesem Fall hat sich WotC dazu entschieden das System zu überarbeiten und es zu einer Art sozialen Währung zu modellieren, welche zwischen den Charakteren ausgetauscht werden kann.
Ob gut umgesetzt oder nicht – Änderungen dieser Art zeigen, dass die Versprechen von WotC, mit One D&D keine neue Edition zu erschaffen, sondern so gut es geht, bestehende Regeln anzupassen, keine leeren Worte sind. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass WotC mit dieser Herangehensweise den schwierigeren Pfad gewählt hat. Nicht umsonst wird gerne gesagt "Never change a running System". Neu entstehende Wechselwirkungen zwischen bestehenden Regelsystemen sind schwierig vorherzusehen. Ein gänzlich neues Regelsystem zu erschaffen, birgt dieses Risiko nicht und wäre der kostengünstigere Weg gewesen. WotC hat sich hier überraschenderweise anders entschieden.
Einsteiger werden es schwerer haben
Statt sich das Leben mit einer neuen Edition oder einem neuen Regelsystem leichter zu machen, geht WotC in die genau entgegengesetzte Richtung – sie verdichten das Netz und damit die Abhängigkeiten zwischen den bestehenden Systemen.
Bleiben wir für das nachfolgende Beispiel bei den Änderungen rund um die Inspiration. Zunächst etwas losgelöst, spielt Inspiration nun beim Kampf, der Rast und der Wahl des Volkes eine Rolle. Eine tiefere Vernetzung mit den einzelnen Klassen dürfte auch erwartet werden.
Ein anderes Beispiel ist die Anpassung von Hintergründen und Talenten, welche nun zusammengefasst wurden und eine wechselseitige Verbindung eingehen. Talente sind nun weniger eine Trickkiste, in welche Spieler:innen und Spielleitung greifen können, sondern mehr essenzieller Bestandteil der Charaktererstellung und sogar darüber hinaus.
Talente haben nun auch Vorbedingungen, die erfüllt werden müssen, um diese verwenden zu können. Damit werden Talente in Abhängigkeit von anderen Talenten, Attributen und vielleicht später auch Klassen gestellt.
Wir können davon ausgehen, dass dieser Trend sich in den nachfolgenden Artikeln von Unearthed Arcana fortsetzen wird. Diese dichtere Vernetzung von Regelsystemen sorgt zwangsläufig für eine erhöhte Komplexität. Wie schon zuvor erwähnt, wird das Spiel mehr zu dem gemacht, wie es gespielt wird. Bedeutet, das One D&D sich an den bestehenden Spieler:innen und ihren Bedürfnissen orientieren, nicht den Neueinsteiger:innen. Schließlich werden die Feedbackbögen zu diesen Regel-Entwürfen nicht von zukünftigen Spieler:innen ausgefüllt.
Man darf also gespannt sein, in wie fern bei der Komplexität nicht auch eines der markantesten Merkmale von D&D abgeschwächt wird – der Einsteigerfreundlichkeit des Regelwerks.
Bastler dürfen hoffen
An dieser Stelle eine ganz persönliche Erfahrung. Mir ist, bevor ich die vorläufigen Änderungen an den Hintergründen gelesen habe, nie aufgefallen, wie umständlich die Erstellung von Hintergründen in der aktuellen Fassung des Spielerhandbuchs beschrieben sind.
Zunächst werden eine Reihe von Optionen gegeben, von denen ausgegangen wird, dass diese den Großteil der Wünsche von Spielenden abdeckt. Doch falls dem nicht der Fall ist, wird in einem kurzen Abschnitt erklärt, wie man diese Optionen auf sich anpassen kann.
Das soll sich nun grundlegend Ändern. Zukünftig soll den Spielenden ein Baukasten gegeben werden, um einen eigenen Hintergrund zu erstellen. Für das leichtere Verständnis und die Möglichkeit zeiteffizienter Charaktere zu erstellen, werden Beispiele geliefert, welche allesamt mit dem selben Baukasten erstellt wurden.
The first thing that people are going to see is that the default option now for your background is to build your own.
Jeremy Crawford in Unearthed Arcana: Character Origins | One D&D
Statt der Anleitung zur Anpassung von Bestehendem, ein Baukasten für die Erschaffung von Neuem. Diese Inversion of Control, zugegeben ein sehr technischer Begriff, lässt sehr viel von dem neuen Spielleiterhandbuch erwarten, dem häufig nachgesagt wird, dass es zwar gute Inspiration bietet, doch kaum fähige Werkzeuge für das Erstellen von eigenen Abenteuern.
Trennung von Natur und Kultur
Ein guter Baukasten benötigt eine größtmögliche Auswahl von Optionen. Da WotC sich dazu entschieden hat so wenig wie möglich Neues einzuführen, weichen sie die Limitierungen von Merkmale und Zaubern auf und eröffnen so viele Möglichkeiten für die Nutzung bestimmter Merkmale über Völker hinweg. Dadurch wächst die Anzahl an Optionen welche einem für die Erstellung eines Hintergrunds zur Verfügung stehen. Doch das geschieht nicht ohne einen zweiten Hintergedanken.
Die zuvor exklusiven Merkmale von Völkern, werden auf eine geringe Auswahl reduziert, welche das eine Volk explizit von allen anderen unterscheidet. In einem Zweifelsfall wird das Merkmale für alle oder zumindest eine größere Auswahl als Talent verfügbar gemacht.
Angetrieben wird dieser Entscheidungsprozess, was zu einem Volk gehört und was nicht, von dem Umstand dass von nun an ein Volk nur noch durch ihre biologischen Merkmale beschrieben wird – die Kultur spielt keine Rolle mehr. Biologische Merkmale lassen sich leichter festlegen und deutlicher abgrenzen, als wie zuvor die kulturellen Aspekte. Ein Zwerg hat nun von Geburt an eine Sensibilität für Erderschütterungen, nicht durch seine Kultur, sondern durch seine biologische Abstammung.
Really leaning into the mythic stories of each of the race options in the game and looking for ways to make them sort of the version truest to themselves.
Jeremy Crawford in Unearthed Arcana: Character Origins | One D&D
Die Ausdünnung von völkerspezifischen Merkmale begegnet WotC damit, dass bestimmte Merkmale automatisch Teil eines Volks werden, ohne dass Spielende diese über Hintergründe als Talent ihrem Charakter hinzufügen müssen.
Die Trennung von Natur und Kultur ist aktuell am deutlichsten an den Zauberlisten zu sehen. Diese sortieren sich nun nicht mehr in Listen der Klassen, für welche sie verfügbar sind, sondern danach, was die Quelle ihrer Macht ist. Also nicht danach, welche Rolle die Magie in der Kultur der Spielwelt einnimmt, sondern was ihr natürlicher Ursprung ist.
Mehr Kontrolle über Dramaturgie
Eine weitere Änderung lässt darauf hoffen, dass WotC sich mit der Überarbeitung der Regeln als Ziel gesetzt hat, der Spielleitung mehr Kontrolle darüber zu geben, den dramaturgische Verlauf des Spielerlebnisses zu beeinflussen. Die zunächst vielfach kritisierte Entscheidung, dass nur mehr Spieler:innen-Charaktere kritische Treffer landen können, geht eine gut durchdachte Motivation voraus.
Das Ziel ist es für mehr Spaß am Spieltisch zu sorgen, doch nicht durch die Verminderung des Risikos einer Niederlage, sondern dadurch der Spielleitung mehr Kontrolle darüber zu geben, zu entscheiden, an welchem Zeitpunkt es besonders aufregend wäre, die Schwierigkeit für die Spielenden zu erhöhen.
Ein kritischer Treffer eines Monsters sorgt im Gegensatz zu einem kritischen Treffer eines Charakters nicht für eine aufregende Überraschung, weder bei der Spielleitung noch bei den Spielenden. Ein kritischer Treffer eines Monsters lässt sich schwer als motivierte Aktion verkaufen und wirkt eher wie ein Produkt des Zufalls. Gerade auf den ersten Stufen kann ein kritischer Treffer zwischen Leben und Tod eines Charakters entscheiden und den Plan der Spielleitung, wie der Kampf möglichst spannend verlaufen könnte, vollkommen zerstören.
WotC geht beide Probleme an, indem sie die Möglichkeit zu außergewöhnlich starken Angriffen auf die Recharge-Fähigkeiten übertragen. Ein weiteres Beispiel, bei welchem ein bestehendes System neu interpretiert wird, um einen gewünschten Effekt zu erreichen. Denn Recharge-Fähigkeiten haben den selben Effekt wie kritische Treffer. Sie bieten darüber hinaus aber einen visuellen, beschreibenden Rahmen und werden von Spielleitung gezielt ausgeführt.
We use recharge abilities to deliver those scary massive strikes [...]. The DM decides when to use it.
Jeremy Crawford in Unearthed Arcana: Character Origins | One D&D
Die Spielleitung entscheidet wann sie die Schwierigkeit erhöhen will – wann das Monster auf Deutsch gesagt "Ernst macht". Auch das Risiko von unvorhersehbaren Charaktertoden auf den niedrigen Stufen wird dadurch beseitigt, weil Fähigkeiten dieser Art erst ab einem bestimmten Herausforderungsgrad relevant werden.
Um trotzdem das Element des Zufalls weiterhin einen Einfluss auf das Spielgeschehen haben zu lassen, wird erwürfelt, wie lange es dauert, bis die Spielleitung diese Fähigkeit ein weiteres Mal einsetzen darf.
Änderungen dieser Art zeigen, wie viele Gedanken sich über die Anpassung der Regeln gemacht wird und welche überraschend tiefgreifenden Folgen durch solch einfache Änderungen das Spielgeschehen verändern werden.
Erstes Fazit
Wizard of the Coast hat meiner Meinung nach mit dem ersten Entwurf der Regel gezeigt, dass ihnen die Beständigkeit des etablierten Regelsystems wichtig ist. Die Regelanpassungen sind durchdacht und gut argumentiert. Es handelt sich weniger um einzelne Wertänderungen als der Neuausrichtung und Neuinterpretation ganzer Systeme und ihrer Vernetzung. Ein Akt der wirklich nicht zu unterschätzen ist und meiner Meinung nach etwas Optimismus bezüglich dem Motiv von WotC verdient. Denn ist man ehrlich. Hätte WotC eine gänzlich neue Edition angekündigt, wäre die Empörung zunächst sicherlich groß gewesen, doch letztendlich hätten alle sie gekauft – mich eingeschlossen.
Das ist nicht passiert. Stattdessen bekommen wir kluge, durchdachte Anpassungen vorgelegt, auf welche wir Einfluss nehmen können. Ich bin jedenfalls sehr aufgeregt auf das, was kommt.